Über die Schatten
Der Schatten ist jener Aspekt unserer Person, den wir auch die dunkle Seite nennen können, ohne dass wir allerdings mit dieser Bezeichnung eine moralische Wertung verknüpfen sollen, denn sie ist wörtlich zu verstehen.
Der Ausdruck »dunkle Seite« beschreibt, dass unsere Persönlichkeit Aspekte aufweist,
nämlich Eigenschaften, Wünsche und Bedürfnisse, die wir selber nicht wahrnehmen oder derer wir nur selten bewusst werden. In Bezug auf sie tappen wir buchstäblich im Dunklen – jedenfalls die meiste Zeit und wenn wir den Alltag ohne ausreichende Achtsamkeit verleben. Sind wir hingegen achtsam für uns selber wie auch für unsere Umwelt, können wir bei zahlreichen Anlässen etwas über unsere Schatten erfahren.
Alle Beziehungen zum Beispiel pflegen regelmäßig eine Dynamik zu entwickeln, die unsere Schatten an die Oberfläche bringt, dabei spielt es auch keine Rolle, ob wir uns der anderen Person tief verbunden fühlen, sie ablehnen oder sie eben erst kennen gelernt haben. Allein das Vorhandensein eines anderen und wie wir seine Erscheinung, seine Worte und Handlungen wahrnehmen und beurteilen, löst diese Dynamik schon aus.
Wie funktioniert das? Wann immer ich eine Person wahrnehme, wird diese Wahrnehmung – der Anblick, die Worte, die Gesten des anderen – wie gefiltert durch das Raster meiner eigenen Wirklichkeit und entsprechend interpretiert. Ich setze mich also, und das ist unvermeidlich, selber zum Massstab meiner Wahrnehmung wie auch meiner Interpretation und verwende bei allen Wertungen meine eigenen inneren Qualitäten als Kategorien. Wahrnehmung ist folglich, wenn wir diesen Überlegungen nachgehen, stets ein Vorgang, bei dem wir uns verhalten wie die Schöpfer einer universalen Realität, erschaffen nach unserem eigenen Bilde.
Und mit jeder Beschreibung unserer Wahrnehmung wie auch mit jeder Wertung veröffentlichen wir sozusagen unser eigenes Kategoriensystem, geben wir, meist unbewusst, Auskunft über das, was bei uns selber im Licht oder im Dunkeln liegt. Alles, was wir wahrnehmen und benennen können, spiegelt unsere eigene innere Realität. Würde es sich nicht um die Spiegelung der eigenen inneren Wirklichkeit handeln, könnten wir es nicht wahrnehmen und benennen. Die Menschen und die Umstände, die uns erfreuen, spiegeln folglich ebenso unser Eigenes wider wie jene, die uns frustrieren oder ärgern. Beides zeigt uns einen Bereich unseres Inneren, der in der Regel im Schatten liegt, vor allem wenn es sich um negativ Besetztes handelt. Wer sich auf die Suche nach sich selber macht und mit diesen Zusammenhängen konfrontiert wird, pflegt häufig erst einmal verständnislos oder sogar aufgebracht zu reagieren. Verständnislos: »Was, ich soll musikalisch sein? Ich verstehe überhaupt nichts von Musik, ich beneide jene, die musikalisch sind.« Oder aufgebracht: »Was, ich soll arrogant und stolz sein? Das hat mit mir doch nichts zu tun, wenn ich mich über solche Leute ärgere!« In beiden Fällen handelt es sich um die Projektion eigener Eigenschaften, von denen wir glauben, dass wir sie nicht besitzen, auf einen anderen Menschen. Oder wir projizieren unterdrückte Wünsche und Bedürfnisse und empören uns, was sich andere, zum Beispiel in der Sexualität, erlauben. Und finden wir uns in Abwehrkämpfe gegen Charaktermerkmale verwickelt, die wir bei anderen wahrnehmen, aber selbst nicht zu besitzen glauben, betreiben wir Schattenboxen. Dann passt der Satz aus der Bibel vom Splitter im Auge des anderen, über dem wir den Balken im eigenen übersehen. Je höher die emotionale Ladung, mit der wir uns gegen bestimmte Energien, Wertungen und Urteile zur Wehr setzen, desto mehr haben wir mit ihnen zu tun, treffen sie direkt oder in der Umkehrung auf uns selber zu.
Was tun, wenn wir die Balken im eigenen Auge entdecken? Wie mit den Schatten arbeiten? Ein guter Beginn besteht darin, sie einfach einmal still auszuhalten, nicht vor ihnen davonzulaufen. Denn die Integration der Schatten beginnt damit, dass wir ihr Vorhandensein annehmen und ihnen bis in die Verästelungen der Gefühle, Empfindungen und Gedanken nachspüren. Wir sollten uns stets daran erinnern, dass es sich auch hier um verzerrte essentielle Energien handelt.